Leseprobe 1
Kapitel 1
Juschka verschwindet
Ein Schuss kracht. Kurz und trocken. Das Echo rollt durch den Wald. Dann ist es still. Ich wundere mich. Ein Schuss um diese Zeit? Um halb acht Uhr am Morgen? Die Sonne blinzelt durch die Baumwipfel und lässt die hellgrünen Frühlingsblätter frisch aufleuchten. Noch ist es kühl im Schatten der Bäume.
Nur Minuten zuvor habe ich meinen roten Kleinbus auf dem Parkplatz beim Waldrand abgestellt, wo bereits drei weitere Autos stehen. Ich kenne die Wagen, und auch die Menschen, denen sie gehören, vom Sehen her. So wie man Menschen eben kennt, die jeden Morgen zur selben Zeit mit ihren Hunden spazieren gehen. Man grüsst sich freundlich, bleibt manchmal stehen, wechselt ein paar Worte und geht weiter. Eine fast verschworene Gesellschaft.
Die Leute kennen mich, weil ich jeden Morgen da meinen roten Bus parkiere, die Hunde Juschka und Eschek frei lasse, und mit ihnen im Wald verschwinde.
Das Langmoos ist das Naherholungszentrum der kleinen Stadt Stachen. Ein Waldstück, in dem es von Hundefreunden, von Velofahrer, Joggern und Spaziergängern nur so wimmelt.
Und nun dieser Schuss! Ich schaue mich beunruhigt im Wald um. Velofahrer überholen mich, grüssen freundlich, doch ich höre sie nicht mehr. Ich pfeife Eschek zurück, der auf dem schmalen Weg zum Bach vorausgeeilt ist. Nur Minuten zuvor ist Juschka, meine Hündin, hier zwischen den Büschen in den Wald hineingesprungen. Sie ist Januk, dem kleinen Hundebaby gefolgt, das erst seit ein paar Tagen bei uns in den Ferien ist. Januk ist Juschkas Sohn. Als der Kleine vorhin spielerisch in den Wald gerannt ist, folgte ihm Juschka, dem Mutterinstinkt gehorchend, sofort. Ich habe sie gewähren lassen. Ich kenne Juschka. Sie ist eine zuverlässige, gute Hündin. Meine wichtigste Begleiterin seit vielen Jahren. Ich vertraue ihr, so wie Juschka mir vertraut.
Ich starre in den Wald. Man sieht weit herum. Das hellgrüne Laub ist Anfangs Mai noch nicht sehr dicht. Wo Juschka bleibt? Sie müsste doch längst wieder da sein! Da! Ein paar Meter weiter vorn taucht Januk am Waldrand auf. Er heult und rennt zum Bus. Ich rufe ihn. „Januk! Januk, komm!“ Ich pfeife. Januk gehorcht nicht, er verkriecht sich hinter dem Bus.
Beim Parkplatz bleiben ein paar Leute stehen. Sie haben den Schuss auch gehört und sind beunruhigt. Ich renne zum Parkplatz und öffne die Heckklappe. Ich weiss, wenn Juschka zurückkommt, dann hierher. Ich nehme Januk und Eschek an die Leine und renne in den Wald.
Ein Mann ruft mir zu: „Der Schuss ist da oben abgegeben worden.“ Ich renne los. Zuerst bleibe ich auf der Strasse, dann verlasse ich den Weg und schlage mich quer durch die Büsche. Der Schuss krachte da oben, hat der Mann gerufen. Ich schaue den Hang hinauf. Nichts zu sehen. Ich renne weiter. Die Zweige peitschen in mein Gesicht. Ich kümmere mich nicht darum. Meine Augen suchen das Gehölz ab. «Juschka!» Nichts! Ich rufe, immer wieder; doch mein Ruf verhallt im Wald. Mir wird klar, der Schuss galt vielleicht Juschka, viel eher aber galt der Schuss mir! Mir, Silas, dem Zigeuner!
Jetzt endlich scheint Eschek eine Fährte aufgenommen zu haben. Ich folge ihm, meine Müdigkeit fällt von mir ab. Die Angst um meinen Hund treibt mich an. Ich muss ihn finden. Weiter, weiter. Irgendwo da oben muss Juschka sein. Ich folge Eschek und ziehe mit aller Kraft den winselnden Januk hinter mir her. Er sperrt sich heftig.
„Es war da oben“, höre ich eine weibliche Stimme rufen. Unten, auf der Waldstrasse, winkt mir eine Frau. „Da, rechts, auf der Anhöhe.“ Ich nicke und renne weiter. Der Hang wird steiler. Mein Herz hämmert, der Kopf dröhnt. Die Angst um Juschka nimmt von Sekunde zu Sekunde zu. Immer wieder verfangen sich meine Füsse im Gestrüpp. Ich stolpere weiter, schaue den Hang hinauf.
Hinter mir haben Leute die Suche aufgenommen. „Juschka!“, hallt es durch den Wald. Tränen schiessen mir in die Augen.
Jetzt biegt Eschek in einen kleinen, schmalen Pfad ein, ein Wildpfad, wo Rehe wechseln.. Ich folge ihm, die Angst treibt mich an, obwohl ich bereits erschöpft bin und der Kopf vor Schmerzen zu platzen droht. Eschek hält einen Moment inne, ich bleibe schwer atmend stehen und habe plötzlich Mühe, Januk zu halten, der mit aller Kraft seine kleinen Beine in den Boden stemmt und sich weigert weiter zu laufen. Er will umdrehen. Er heult und dreht sich im Kreis.
„Da muss etwas passiert sein.“
Ich drehe mich um. Die Frau von vorhin steht hinter mir und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie atmet schwer. Ihre Wangen sind rot. „Gehen wir da hinauf. Da oben ist der Wald zu Ende“, fordert sie mich auf. Gemeinsam steigen wir weiter. Eschek zieht mit aller Macht an der Leine. Er hat Juschkas Fährte aufgenommen, denke ich hoffnungsvoll und lasse mich von ihm führen.
Da gibt Eschek Laut. Ich drehe den Kopf und sehe ein paar hundert Meter weiter vorn im Gebüsch etwas Dunkles liegen. Rasch hin. Ein Jäger! Der Mann richtet sich auf und grüsst uns. Ja, er habe einen weissen Hund etwas weiter vorne den Weg hinauf springen sehen, bestätigt er, und mit einem Blick auf Januk an der Leine, „Und den kleinen Schwarzweissen da auch.“
„Haben Sie geschossen?“ Ich kann meine Erregung kaum beherrschen. Der Jäger wird wütend. „Was denken Sie denn? Um diese Jahreszeit?!» «Da“, hält er mir den Gewehrlauf vor die Nase. „Der Lauf ist kalt!“ Etwas versöhnlicher lenkt er ein. „Ich liege hier schon eine geraume Weile im Holz und beobachte das Wild. Doch gesehen habe ich kein einziges Tier, keinen Hasen, kein Reh. Nichts.“
Er könne sich nicht vorstellen, wer geschossen haben könnte. Auch er habe natürlich den Schuss gehört, aber gesehen habe er niemand.Der Jäger zeigt in den Wald. Man sieht weit, die Knospen der Büsche beginnen erst zu treiben, das wenige Grün der Bäume vermag die Sicht noch nicht zu behindern.
Der Jäger gibt mir bereitwillig seine Telefonnummer und nennt seinen Namen: «Ich heisse Gallo.“ Er sei gern bereit, seine Aussage schriftlich zu bestätigen. Ich werde etwas ruhiger und renne weiter. Ich muss Juschka finden. Koste es, was es wolle.