Leseprobe 1
Leseprobe aus dem Kapitel: Vielleicht dürfen wir bald wieder nach Hause…
Der schwere Gang zur Gotte
Maria, Niederösterreich 1935
Mutter drückt Maria (8) und Anna (7) ein kleines Bündel in die Hand. Darin sind einige Kleider und etwas zu essen. Sie weint und kann kaum noch sprechen. Immer wieder küsst sie die Gesichter ihrer beiden Mädchen. Dann lässt sie sie ziehen. „Ihr kennt den Weg?“ Forschend schaut sie in die Augen ihrer Kinder. Die beiden Mädchen nicken. „Ja Mama, wir kennen ihn.“ Vor ihnen liegt ein gut dreistündiger Fussmarsch. Ihr Ziel ist der Hof von Marias Gotte. Sie ist eine entfernte Verwandte, die mit ihrem Mann und den beiden bald erwachsenen Kindern, einer Tochter und einem Sohn, ein Bauerngut betreibt.
Vor einigen Wochen ist ein Mann vom Fürsorgeamt zur Mutter gekommen. Er hat erklärt, dass die Zustände hier unhaltbar seien und die Kinder fort müssten. Es gehe nicht an, erklärte er der weinenden Mutter, dass eine alte, kranke Frau auf zwei Kinder aufpassen müsse und die Mutter den ganzen Tag unterwegs sei.
Dass die Kinder die kranke Grossmutter pflegten und die Mutter die hohen Zinsforderungen dieser alten Frau abzuarbeiten hatte, wollte der Mann nicht hören. Er kenne die Umstände, mehr gebe es dazu nicht zu sagen. Mutter gab nicht auf. Ihre Mädchen durften nicht aus dem Haus.
Anderntags ging sie ins Dorf, aufs Gemeindeamt, und sprach beim Bürgermeister vor. Sie versuchte alles, die Kinder zu behalten. Sie ging von Büro zu Büro, sprach mit einflussreichen Leuten aus dem Dorf. Doch überall winkte man ab. „Es tut uns leid, die Umstände sind zu gravierend.“ Schliesslich erfuhr die junge Frau, dass sich ihre eigene Mutter beklagt hatte. Gegen solch schwer wiegende Vorwürfe aus erster Hand könne man nichts ausrichten, wurde ihr mitgeteilt.
Sie erfuhr, dass ihre alte, bettlägerige Mutter Besuch bekommen hatte und sich über das Schicksal ihrer Enkelkinder ausliess
Als sie ihre Mutter zur Rede stellte, erklärte diese, dass sie gehofft hatte, so Druck auf den Vater ihrer beiden unehelichen Enkelkinder ausüben zu können, damit er endlich zum Zahlen bereit sei.
Aber es kam anders. Die Gemeinde ordnete an, dass die Kinder bei einem Bauern im Dorf untergebracht werden sollten. Die Mutter, aber auch die Kinder kannten diesen jähzornigen, unberechenbaren Menschen, der immer wieder Pflegekinder hielt. Und es war ein offenes Geheimnis, dass die Schützlinge bei dem wie Sklaven gehalten wurden. Nein, zu diesem Menschen würde sie ihre Kinder nie ziehen lassen.
Doch sie fand in der kurzen Zeit keinen anderen, vor allem keinen besseren Platz. In ihrer grossen Not schickte sie nun die Kinder auf den langen Marsch zur Gotte. Allein in der Hoffnung, dass diese ein Einsehen haben und die Kinder nicht wieder zurückschicken würden.
Maria und Anna ziehen los. Es ist Sonntagmorgen, die Sonne scheint. Doch je näher die Uhr Richtung Mittag rückt, um so heisser wird ihnen. Sie haben Durst, sind müde und haben vor allem schreckliche Angst vor der Ungewissheit ihrer Zukunft. Viele Male würden sie gerne wieder umkehren und zu Mutter zurückgehen. Doch tapfer marschieren sie weiter. Manchmal weinen sie, dann versuchen sie sich wieder gegenseitig zu trösten und Mut zu machen. Bei der Gotte haben wir es gut und wir werden unsere Mutter so oft besuchen, wie es nur geht.
Vielleicht können wir ja auch bald wieder nach Hause zurück.
Endlich sind sie da. Es ist Mittag und die Familie sitzt am Tisch und isst. Maria klopft an die Haustüre und trägt mit scheuer Stimme den Grund ihres Kommens vor. Die Gotte stemmt ihre Arme in die Hüften und murrt: „So, so, das will eure Mutter. Und uns hat sie nicht gefragt. Wir haben keinen Platz für euch und selbst genug Mühe, uns durchzubringen. Geht wieder nach Haus.“
Sie will die Kinder wieder auf den langen Weg nach Hause schicken, ungerührt der Tränen und des Bettelns der beiden Mädchen. Da ertönt aus dem Hintergrund eine Stimme: Lass die Kinder doch erst mal eintreten und mitessen. Sie sind erschöpft und müde. Und dann überlegst du dir die Sache noch einmal.“
Gotte hat Gäste am Tisch und die haben die Not und die Tränen der Kinder mitbekommen. Schliesslich gibt die Gotte nach. „Dann bleibt eben , meinetwegen. Aber ihr müsst euren Unterhalt mit Arbeit mitverdienen.“
Maria und Anna nicken erleichtert. „Wir danken dir.“ stammeln sie mit Tränen in den Augen. Nach dem Essen stellt die Tochter des Hauses Maria in die Küche, wo das Geschirr sich türmt.
„Hier hast du Arbeit“, herrscht sie die Kleine an und geht wieder zu den Gästen.
Viel zu rasch wird das Abwaschwasser kalt und Maria bringt das Fett von den schweren, gusseisernen Pfannen kaum weg. Sie versucht mit allen Mitteln, die Pfannen sauber zu kriegen, mit dem Resultat, dass sie schliesslich verzweifelt und mit schwarzen Händen, schmierig von oben bis unten, aufgibt.
Zwar haben die Kinder von nun an genug zu essen – anfänglich mindestens – doch der Druck bleibt. Das Heimweh nach der Mutter und die täglichen Schikanen lasten schwer auf ihren Seelen. Maria und Anna sind froh, dass sie wenigstens zusammenbleiben können, und wenn sie abends, müde von der Arbeit auf dem Hof, zusammen ins Bett steigen, das die Gotte in die Kammer gestellt hat, wo bereits die Grossmutter und die Haustochter schlafen, dann halten sie sich ganz fest und geben sich Trost.