Leseprobe 2
Kapitel 2
Früheste Kindheitserinnerungen
Genau aus jener Zeit stammen meine frühesten Kindheitserinnerungen. Meine Eltern wohnten damals an der Georgstrasse. Ich war fünf Jahre alt und lebte seit kurzem zum ersten Mal daheim bei meinen Eltern.Bisher war ich nur in Heimen untergebracht und hatte es da gut.
Ein völlig neuer Lebensabschnitt begann. Fünf der damals rund zehn Geschwister – es sollten noch mehr werden, Mutter war noch immer Jahr für Jahr schwanger – lebten in jenen Monaten bei den Eltern. Meine drei älteren Schwestern Johanna, Sonja, und Regula sowie Dagmar und ich.
Warum wir plötzlich zu Hause lebten, weiss ich nicht. Vielleicht haben uns die Eltern aus dem Heim geholt. Das hatten sie
auch bei den älteren Geschwistern öfters gemacht, um sie Tage, Wochen oder Monate später wieder irgendwo in einer Institution vor der Türe abzusetzen.
Wir wohnten in einem städtischen Bürgerhaus aus dem 19. Jahrhundert. Im Parterre führten meine Eltern ein Antiquitätengeschäft. Die Zeit des Schränzens, des Hausierens war für meine Eltern zu jener Zeit vorbei. Es war ein kleines, enges Lokal, vollgepfercht mit erlesenen Möbelstücken, sowie Zinn- und Kupfergegenständen.
Es sah aus wie in einem Museum. Vom Parterre führte eine Holztreppe zu unserer Wohnung im ersten Stock. Eine Toilette hatten wir damals noch nicht in der Wohnung. Sie befand sich draussen neben der Stiege, verborgen hinter einer schmalen Tür. Trotz der verzierten Milchglasscheibe der Wohnungstür, war der Korridor eng und dunkel. Die Wohnung war klein, sie bestand lediglich aus einer engen Küche, einer Stube mit einem wuchtigen Esstisch und sechs Stühlen, einem Sofa über dem ein Bild mit Jesus von Nazareth hing.
Vater und Mutter hatten auch in der Stube viele Zinn- und Kupfergegenstände, aus ihrem Antiquitätengeschäft aufgestellt und aufgehängt. Ich erinnere mich deshalb noch so gut daran, weil Dagmars und meine Hauptaufgabe darin bestand, diese Gegenstände tagtäglich abzustauben. Links neben der Stube lag das Elternschlafzimmer. Ich glaube, Dagmar und ich schliefen dort. Rechts neben der Stube führte eine Türe in eine kleine Schlafkammer und gleich dahinter war noch ein Zimmer. Auch das war eng und klein.
Ich erinnere mich, wie ich damals schon sehr aufgepasst habe, was ich tat oder was ich sagte. Niemand von uns Kindern, am allerwenigsten ich, wollten Mutters Unmut erregen. Doch das war leichter gesagt als getan. Mutter war eine temperamentvolle, rasch aufbrausende Frau. Wehe, wenn sie ihre Arme in die Hüfte stemmte, dann war Gewitterstimmung angesagt und davor fürchteten wir uns sehr. Nur Johanna, die älteste Schwester, ging leichtfüssig und unbeschwert im Haus ein und aus. Sie schien sich wohl zu fühlen. Mutter mochte sie sehr. Regula und Sonja aber wurden jeden Tag geschlagen. Oft sah ich zu, wie Mutter mit dem Handbesen Regula auf den Mund schlug. Sie sei eine freche Gans! Was sie wirklich angestellt hatte, war mir nie so recht klar. Es wurde bald zur nebensächlichen Frage, weil Regula und Sonja jeden Tag mehrfach geschlagen wurden. Johanna, Dagmar und ich mussten bei diesen Strafaktionen anwesend sein und Mutter mithelfen. Es war eine Qual. Regula und Sonja hatten sich bäuchlings über einen Stuhl in der Stube zu legen und wir Geschwister mussten ihre Hände und Füsse festhalten. Dann schlug Mutter zu, meist mit dem Handbesen. Manchmal auch mit einem Stecken oder einem Lederriemen. Und wehe, wenn ich nicht fest genug zupackte, es Regula und Sonja gelang einen Arm oder ein Bein freizubekommen! Dann landete der nächste Stockschlag garantiert auf meiner Hand.
Am meisten hasste ich den Freitag. Da gab es Polenta zum Mittagessen. War Mutter zornig oder gereizt, füllte sie Suppenlöffel mit heisser Polenta und schob sie Regula und Sonja in den Mund. So grob, dass bei Regula einmal sogar ein Zahn zersplitterte. Einmal sah ich zu, wie Mutter Regula eine heisse Zwiebel in den Mund drückte, ihr den Mund zuhielt und ihr befahl, die Zwiebel zu essen. Regula erstickte beinahe! Aber sie gab keinen Ton von sich und mühte sich krampfhaft mit dem viel zu grossen Knollen im Mund ab. Ich sah nur eine Träne in ihren Augen schimmern. Ich litt mit und hatte Angst wie sie.
Dann, von einem Tag auf den anderen, wurden Dagmar und ich abgeholt und in ein Heim verbracht. Wir hatten wieder etwas Ruhe; doch ich wusste, dass der Terror für Regula und Sonja zu Hause unvermindert weiter ging. Das beklemmende Gefühl blieb.
An das Heim erinnere ich mich nur noch schwach. Klosterfrauen in ihren schwarzen Trachten, hatten uns betreut. Sie waren nett zu uns und wir hatten wieder etwas Ruhe. Die dumpfe Angst verschwand langsam etwas in den Hintergrund. Wir durften wieder spielen und Kinder sein. Eines Nachts, wir Kinder lagen alle bereits im grossen Schlafsaal und schliefen in unseren eisernen Gitterbetten, betrat ein Mann den Saal. Es war dunkel. Wir sahen nur seinen Schatten. Einige der Kinder erwachten sofort und begannen zu weinen. Der Mann blieb. Er ging von einem Bett zum andern, zog jedem Kind die Hosen runter und griff zwischen ihre Beine. Dagmar rief immer wieder meinen Namen: „Silas, Silas, hilf mir!“ Ich konnte ihr nicht helfen! Ich lag in meinem Bett und konnte nicht aufstehen, ich hatte genauso Angst wie alle anderen Kinder und dann kam der Mann auch zu mir. Ich schrie. Die Schwestern fanden rasch heraus, wer der fremde Mann war: Es war der Gärtner des Heims. Er flog noch am gleichen Tag raus. So klein wir damals auch waren, die Angst vor dem Schlafen, die Angst vor der Dunkelheit blieb. Und dies, obwohl eine Klosterfrau ihr Bett mitten in den Saal stellte und bei uns schlief. Bei Dagmar und mir war wieder dieses dumpfe beklemmende Gefühl erwacht, dass uns auch zu Hause bei den Eltern kaum atmen liess. Dagmar und ich wollten nur noch weg. Wohin, war uns unklar. einfach nur weg, Schnee und Kälte zum Trotz. Hand in Hand marschierten wir eines Tages los.