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Leseprobe 3

Kapitel 9

Die Fahrt nach Rosenberg

Wir sitzen im Auto. Die Fahrt ist lang, wir sind eher schweigsam. Die Herren Weber und Hoffmann, wechseln manchmal ein paar Worte. Matter, mein Vormund, sitzt neben mir auf dem Rücksitz. Auch er ist still, doch manchmal spüre ich seinen Blick. Mörder, denke ich. Alle miteinander. Ich schaue krampfhaft aus dem Fenster. Häuser und Strommasten fliegen vorbei. Ich nehme sie kaum wahr. Wie könnt ihr nur! Meine Gedanken wirbeln, mein Mund ist trocken, ich spüre, wie sich meine Hände verkrampfen. Ich habe Angst. Wir fahren nach Rosenberg. In die Arbeitserziehungsanstalt, mit der Zumstein mir immer gedroht hat. „Wer sich nicht benimmt, landet dort. Du Silas, wirst der erste sein.“

Noch im Auto zieht sich mein Magen zusammen, wenn ich an ihn denke. Er hat mir nicht einmal Adieu gesagt. Vielleicht ist es auch gut so. Wer weiss, vielleicht hätte ich ihm zum Abschied die Faust ins Gesicht geschlagen. Wer weiss!

Als ich heute morgen das Klassenzimmer verlassen wollte, hat der Lehrer zu mir gesagt: „Melde dich unverzüglich auf der Direktion.“ Da standen sie. Matter, Hoffmann und Weber. Zuerst habe ich mich einen Moment lang gefreut. Gleich zu dritt sind sie da und gratulieren mir zum Geburtstag, dachte ich. Ich bin am Tag zuvor 17 Jahre alt geworden.

Dann fällt mein Blick auf den Koffer, der vor ihnen steht. Es ist meiner.

„Grüss Gott, Silas!“, Mein Vormund kommt freundlich auf mich zu, drückt mir die Hand. „Wir sind da, um dich abzuholen.“ „Wohin muss ich?“ Ich schaue Matter misstrauisch an. „ In den Rosenberg. Wir begleiteten dich. Du wirst es dort gut haben, Silas, ganz bestimmt. Du wirst eine Lehre als Koch machen, ganz so, wie du es dir immer vorgestellt hast.“ Die Lehre in einem Heim machen! Wer sagte denn, dass ich das will? Wer denn? Viel lieber würde ich nach Hause zu Müeti gehen. „Sie ist zu alt“, hat Weber vom Waisenamt gesagt. „Müeti kann dir kein Heim mehr bieten.“
Ich schaue die Gesichter der drei Männer an. Sie sind freundlich. Trotzdem, ihr Entscheid ist unwiderruflich. Meine Hände zittern. „Komm“, sagt Weber. „Nimm deinen Koffer. Es ist alles eingepackt. Wir können gehen.“

Wir sind wir schon seit einer Stunde unterwegs. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Ich will es auch nicht wissen. Nur eines weiss ich, ich bin raus aus dem Kastanienhof. Endlich, nach drei unendlich langen Jahren. Vorbei die Folter, die Angst während der Nächte. Doch was steht mir bevor?

Der Rosenberg ist Knast. „Nur schwere Jungs werden dort versenkt, hat Stefan immer gesagt. Stefan muss es ja wissen, sein Bruder war da.

Die Fahrt dauert ewig, denke ich. Das Auto biegt in eine Parklücke vor einem kleinen Landgasthof. „Mittagessen“, ruft Weber. Ich steige aus, eisern schweigend gehe ich hinter den Männer zu meiner „Henkersmahlzeit“. Ich werde keinen Bissen runterbringen, das weiss ich jetzt schon. „Hau ab.“ Nur eine Sekunde blitzt dieser Gedanke auf, ich lasse ihn sofort fallen. Wohin denn, ich habe ja niemand.

„Leg den Koffer auf den Tisch. Und komm mit.“ Der Ton ist streng und lässt keine Widerrede zu. Buchmann geht zum Schrank und öffnet ihn. Blaue Unterwäsche liegt darin versorgt. Anstaltswäsche. Jetzt bist du im Knast. Jetzt bist du ganz unten. Ich beobachte, wie er eine Unterhose und ein Unterleibchen hervorholt. „Zieh dich aus!“ Ich gehorche, und lege meine Kleider auf den grossen Tisch. „Alles!“
Ich ziehe die Unterhose aus. Ich friere. Buchmann nimmt meine Wäsche und lässt sie in einem Plastiksack verschwinden. „Die brauchst du nicht mehr! „Komm!“ Ich folge ihm über den gekachelten Boden. Jede Metzgerei hat mehr Wärme, denke ich. Er zeigt auf eine Dusche. „Da, geh hinein und wasch dich.“

Buchmann setzt sich auf einen Stuhl, direkt vor die Dusche. Er schaut mir zu. Ich zögere.
„Los! Wasch dich!“ brüllt er.
„Es hat keinen Vorhang!“
„Wozu?“
Ich drehe das Wasser auf. Eiskalt knallt es auf meinen Körper. Ich möchte schreien. Warum bin ich hier? Ich spüre Buchmanns Blicke und drehe mich zur Wand. Was für ein Nichts. Was für ein schreckliches Nichts bin ich doch!